Desna

Auf einem Fluss in der Nähe von Tchernobyl

Es geht los! Wir lassen die Boote ins Wasser. 12 Faltboote, schwer bepackt mit Zelten, Gepäck und Lebensmitteln. 315 Kilometer liegen vor uns. 315 Kilometer auf dem größten Zubringerfluss der Dnepr – der Desna. Angst habe ich schon ein wenig. Chernihiv, der Endpunkt unserer Reise, ist nur etwa 40 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Von einer Reise in diese Gegend wird normalerweise abgeraten. Touristen gibt es hier nicht, nur das typische ukrainische Landleben. Wir sind 20 Leute: acht Freiwillige aus verschiedenen Ländern und zwölf Ukrainer, teils Studenten, teils Wissenschaftler. Wir wurden in die Ukraine eingeladen, um "den Zustand des Wassers und des Ufer zu untersuchen, als ersten Schritt zur Wiederbelebung des Flusses". Aber offensichtlich wurden die Pläne inzwischen: wir sollen jetzt lediglich Testtouristen für abenteuerliche Kanu-Touren durch die "Wiege der russischen Kultur" sein, wie dieses Gebiet gerne genannt wird. Wir legen pro Tag etwa 30-40 Kilometer zurück. Immer flussabwärts. Die Desna ist ein sehr ursprünglicher Fluss und schlängelt sich in endlosen Kehren durch das ukrainische Flachland, gesäumt von tiefen Wäldern, sandigen Stränden und idyllischen Dörfern. Unterwegs besichtigen auch zahlreiche Kulturdenkmäler und Museen. Der Mittelpunkt der Reise bleibt jedoch der Fluss und das malerische Leben an seinen Ufern.

Schilfwälder und Seerosen

Desna hat wundervolle Seitenarme, die ich zusammen mit meinem Kanugefährten, einem ukrainischen Geologen, auf eigene Faust erkunde. Wir entdecken tiefe Schilfwälder und Teppiche von Seerosen, beobachten Biber, Kraniche und viele Tiere, deren Namen ich nicht einmal kenne. Wir finden versteckte Seen und stille Buchten, verfallene Brücken, rostige Schiffswracks und malerische Sumpfgebiete. Wir bewegen uns kaum im Kanu, warten, bis die Tiere immer näher kommen, nehmen die Stille in uns auf. Und manchmal haben wir auch einen Frosch als ungebetenen Bootsgast!

Expeditionslager am Flussufer

Abends schlagen wir am Flussufer unsere Zelte auf. Es sind einfache handgenähte Baumwollzelte mit Ästen als Zeltstangen. Die "Türen" werden lediglich zugeknotet, nachts ist es innen feucht und stockdunkel. Der dünne Stoff hält die Kälte und den Tau kaum ab. Von oben tropft es beständig auf meinen Schlafsack. Es ist Kondenzwasser, denn wir teilen uns das enge Zelt zu viert. Für unseren Müll wird eine Grube ausgehoben. Toiletten oder Duschen gibt es nicht, ebenso wie befestigte Campingplätze. Wir waschen uns, unsere Kleider und unser Geschirr in den schlammigen Fluten der Desna. Trockene Haut und ein leicht erdiger Geschmack auf den Lippen sind die Folge. Das Kochen ist besonders schwierig. Wir haben keinen Spiritus- oder Benzinkocher, sondern kochen in einem großen Blecheimer über dem offenen Feuer. Meist gibt es Suppen aus Kartoffeln und Kohl, Getreidebrei mit Dosenfleisch und Gemüse oder verkochte Nudeln mit Tomaten-Knoblauch-Soße. Manchmal ist das ganze angereichert von kleinen, mickrigen Fischlein, die wir unterwegs gefangen haben. Es dauert Stunden, bis das Essen fertig ist, zumal wir keine modernen Hilfsmittel wie z.B. Brühwürfel und Soßenmischungen haben. Aber das frische Obst und Gemüse der Ukraine ist ein Genuss. Es schmeckt einfach unbeschreiblich gut!

Leben wie vor zweihundert Jahren

Manchmal werden wir morgens recht unsanft von Kuhherden geweckt. Überhaupt ist in der Ortschaften viel los. Die Menschen hier leben nicht nur am Fluss, sondern mit dem Fluss und vom Fluss. Der Fluss ist Bad, Waschstube und Transportweg in einem. Wenn wir in die Nähe einer Ortschaft kommen, sehen wir das an den wackligen Seilfähren. Es sind deutlich mehr Pferdewagen als Autos unterwegs. Die meisten Pferdewagen sind hoch bepackt, da gerade die Ernte eingebracht wird. Alte Frauen schleppen unglaubliche Lasten oder bessern Dächer aus. Die Ortschaften sind langgestreckt, die Straßen staubig und unasphaltiert. Trinkwasser kommt aus Zisternen oder Brunnen. Die Straßen sind gesäumt von Obstbäumen und Gemüsegärten, man sieht Kühe, Pferde, Gänse, Puten, Ziegen, Hühner, Hunde und Katzen. Die Häuser sind die typischen bunt gestrichenen russischen Holzhäuser mit fein zizilierten Schnitzereien. Mit den üppigen Vorgärten, den Tieren und dem sauber aufgestapelten Heu wirken sie wie kleine Oasen in unserer hektischen Welt. Kaum ein Haus ist unbewohnt, immer sind Leute auf der Straße. Sie diskutieren, versuchen, etwas zu verkaufen, arbeiten, tragen Lasten, füttern die Tiere und so weiter. Es macht einfach Spaß, durch die Straßen zu schlendern und dies alles in sich aufzunehmen!
Jedoch begegnen uns die meisten Leute mit Befremden. Sie können nicht verstehen, warum eine solche Gegend für uns etwas Besonderes und Sehenswertes ist. Manche haben auch ein wenig Angst vor uns, andere bitten uns in ihren Garten und bieten uns kaltes Brunnenwasser oder frisches Obst an. Und ab und zu kommt es vor, das jemand mit uns Englisch oder Deutsch sprechen möchte.

Festmahl in privater Runde

In einem Dorf werden wir bereits von einer ganzen Kinderschar begrüßt. Es hat sich herumgesprochen, dass hier ein paar Engländer mit "ganz komischen neumodischen Faltbooten" unterwegs sind. Die Kinder wollen mit uns Englisch sprechen und unsere Boote ausprobieren. Besonders herzlich ist Marina. Ihre Familie lädt uns kurzerhand zum Abendessen ein. Die Familie hat ein kleines Holzhaus in einer Seitenstraße. Es ist ein Haus, wie man es von Bildern her kennt: Ein gewaltiger Orientteppich an der Wand, eine Vitrine mit Kristallglas, geblühmte Tappete und schwere Vorhänge. Wir alle ziehen die Schuhe aus, nehmen im geräumigen Wohnzimmer Platz. Marina, ihre Geschwister und ihre Eltern tragen wundervolle Speisen auf, essen aber selber nichts. Dann kommt, was ich schon von anderen Besuchen in russischen Familien kenne: Die Frau des Hauses fordert mich auf, ein "deutsches Volkslied" zu singen. Ich singe "Wir lieben die Stürme" und "Hoch auf dem Gelben Wagen". Danach singen unsere Gastgeber ebenfalls ihre liebsten russischen Weisen. Wir dürfen beim Melken der Kuh zusehen und die Familie zeigt uns den gesamten Gemüsegarten und die Stallungen. Es ist einer der schönsten Abende überhaupt! Mit Marina bin ich jetzt noch in Kontakt.

Von Kräutern und Heilmitteln

Die Menschen in Gegenden wie dieser verstehen überhaupt viel von der Natur und von Kräutern und Tropfen aller Art. Wen immer jemand in unserer Gruppe krank war oder sich nicht wohl fühlte, zogen unsere Ukrainer los und kamen kurze Zeit später mit den unterschiedlichsten Blumen, Beeren und Kräutern zurück, aus denen sie Heiltees bereiteten. Die Tees halfen nicht immer, aber meistens. Besonders erstaunlich war für mich, das nicht jeder den gleichen Tee für das gleiche Leiden bekam: "Jeder Tee", wurde uns erklärt, "muß genau auf den zu Behandelnden abgestimmt werden, sonst wirkt er nicht". So gab es zum Beispiel Tees für Männer und Tees für Frauen. Besonders spektakulär war ein "Männertee", den unser Geologe aus ein paar dunklen Wurzeln bereitete, die er von seiner letzten Sibiren-Expedition mitgebracht hatte: Der Tee hatte eine bräunliche Haube aus zähem Schaum, war darunter aber tiefrot und kristallklar. Ich pobierte ihn natürlich. Er hatte einen wunderbar schweren süßlichen Geschmack, obwohl er keinen Zucker enthält. In kaum einem Dorf gibt es einen Arzt. Die Leute in den Dörfern erzählten uns, dass sie erst dann zum Arzt gehen, wenn die "Heilerin" oder der "Heiler" ihres Dorfes nicht weiterhelfen kann. Denn der Heiler betreue nicht nur den Körper, sondern auch der Geist. Es sei für die Heilung schon wichtig, das das "Heilungsgespräch" an einem angenehmen Ort stattfände. Ich habe ein paar Häuser von "Heilern" gesehen. Sie waren von wundervollen Blumen umgeben, das Gartentor stand weit offen.

Von Pferdewagen und anderen Transportmitteln

Oft ist es gar nicht einfach, in der Ukraine einen Arzt oder ein Geschäft zu finden. Die öffentlichen Buslinien fahren nur selten, ein Privatauto besitzt kaum jemand. Und die, die eines besitzen, verlangen meist horrende Preise für das Mitnehmen. Besser ist es, zu laufen, oder ein paar Kopeks hervorzukramen und einen der zahlreichen Pferdewagen anzuhalten. Das ist hier nach wie vor das vorherrschende Transportmittel.
Auf dem Fluss haben wir nur zweimal größere Schiffe gesehen, die noch seetauglich waren. Ansonsten begegneten wir nur wackligen Fischer-Kanus von undefinierbarem Alter, deren Insassen ein paar Meter ruderten oder paddelten, dann schöpften, weiterruderten usw. Ein gutes Verkehrsmittel sind auch die "Maschutkas". Das sind halböffentliche Minibusse, die einen zu einem fairen Preis fast überall hin mitnehmen. Leider verirren sie sich fast nie hierher auf das flache Land...

Wo es keine Schleusen gibt

Kurz vor Ankunft in Chernihiv begegnen wir einem Ehepaar, das den ganzen Weg von Kursk (Russland) bis hierher gepaddelt ist. Sie haben unterwegs keine einzige Schleuse gesehen, mussten kein einziges Mal umtragen! Und auch wir werden auf unseren 315 Kilometern insgesamt nur 3 Brücken sehen, keine Schleuse, kein Wehr und keine Befestigung. Umtragen mussen wir nur einmal: an einer Ponton-Brücke des Militärs... Desna ist still. Und Desna ist schön. Es ist ein Bilderbuch-Idyll inmitten von Europa. Ein Besuch lohnt sich, auch wenn es anstrengend ist, hier zu reisen.

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...und hier gehts zum Ukraine-Reisebericht von Chris.

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